Die Flügel sind trocken

Die Flügel sind trocken

Hat eine Raupe eine Ahnung davon, dass sie irgendwann als Schmetterling fliegen kann? Es kann ihr zwar niemand gesagt haben, aber die Ahnung könnte durch die Gene vererbt worden sein, so dass die Raupe spürt, dass etwas geschieht, was ihren Blick auf die Welt und das Leben absolut verändern wird. Viele Menschen ahnen, dass sie zu mehr berufen sind, zu einem glücklicheren Leben, in dem sie zu dem Menschen geworden sind, zu dem sie Gott geschaffen hat. Aus dem Kokon geschlüpft, muss der Schmetterling erst einmal warten, bis seine Flügel getrocknet sind. Der Mensch macht Fortschritte, entwickelt sich weiter. Er erreicht Meilensteine, die ihn ein großes Stück näher zu sich selbst bringen. Oft sind die inneren Widerstände, die den Menschen davon abhalten, immer mehr er selbst zu werden, sehr groß. Der Grund können traumatische Erlebnisse der Kindheit sein, aber auch Widerstände, die durch Epigene vererbt wurden. Selbst wenn man alle Widerstände oder “blinde Flecken” oder auch negative Glaubenssätze erkannt hat, so ist deren Überwindung eine weitere, schwere Aufgabe. Um bei dem Bild des Schmetterlings zu bleiben: Er verlässt den Kokon als Schmetterling, muss aber warten, bis seine Flügel trocken sind, bevor er wirklich losfliegen kann.

Meine Flügel sind nun trocken und ich wage die ersten Flugversuche. Vorher gab es die Verpuppung der Raupe. Das war für mich die Zeit meiner Krebserkrankung. In diesen vier Jahren habe ich sehr viel gelernt und sehr viel erkannt, allgemein und bei mir selbst. Seit drei Jahren habe ich einen neuen Beruf. Als Coach darf ich Menschen begleiten auf dem Weg in eine glückliche Zukunft und auf dem Weg zu sich selbst. Vor anderthalb Jahren erkannte ich, dass ich noch viel mehr Menschen helfen könnte, wenn ich meine Erkenntnisse über das Internet kommuniziere. Ich fühlte, dass dieser Schritt wichtig für meine Entwicklung war. Wenn ich mehr Menschen helfen kann als ich in Einzelcoachings zu schaffen vermag, dann ist das etwas sehr Gutes. Ich werde immer mehr zu dem Menschen, der ich bin. Das bedeutet, ich setze meine Fähigkeiten und meine schönsten Eigenschaften ein, um so viel Gutes wie möglich zu schaffen.

In den letzten anderthalb Jahren, war ich auf dem Weg, meine inneren Widerstände zu überwinden, die mich davon abhielten, meine Erkenntnisse zu veröffentlichen und so mehr Menschen zu erreichen. Im April 2021 produzierte ich eine 15-teilige Videoserie, in der ich erklärte, wie man es schaffen kann, das Gute in allem zu sehen, was geschieht. Doch ich trat nicht selbst vor die Kamera. Ich sprach meinen Text ein, den ich zuvor geschrieben hatte. Ich wusste natürlich, dass die alte Angst vor negativen Bewertungen der Grund für mein Zögern war. Dazu kam die Angst vor positiven Bewertungen, denn ich wollte mein Ego weder durch schlechte noch durch gute Bewertungen füttern. Eigentlich war ich bereits soweit. Ich identifizierte mich schon längst nicht mehr mit meinem Ego. Mein wahres Selbst liegt hinter dem Ego, das war mir klar. Doch ich schaffte es nicht. Es war manchmal, als ob eine unsichtbare Mauer mein Fortkommen verhinderte. Ich konnte die Mauer fühlen; ich wusste, dass sie da war, warum sie da war und woraus sie besteht. Aber ich konnte sie nicht sehen und nicht überwinden. Das zeigt, dass die Erkenntnis, worin die inneren Widerstände bestehen, nicht ausreicht. Es ist ein wichtiger Schritt, zu erkennen, warum die Mauer besteht. Bei manchen Menschen reicht die Erkenntnis vielleicht schon aus. Das Überwinden selbst ist für sie ein Kinderspiel. Bei den meisten ist das Überwinden jedoch schwer. Und es braucht Zeit. Bei mir anderthalb Jahre.

Mein größter innerer Widerstand ist der Zweifel, gut genug zu sein. Gleichzeitig existiert die Angst, schlecht bewertet zu werden und nicht ausreichend zu sein. Eigentlich hatte ich eine behütete und glückliche Kindheit. Mein Vater war zwar manchmal streng, ein oder zweimal rutschte auch seine Hand aus, aber ich habe sehr viel Liebe erhalten, durch meine Mutter sowieso, aber auch durch meinen Vater. Ich kann mich nur an wenige Situationen erinnern, in denen ich herabgesetzt wurde. Das waren Gelegenheiten, in denen ich meinem Vater handwerklich zur Hand gehen musste. Er war sehr ungeduldig und ich half ihm meistens nicht gut und schnell genug. Und er ermunterte mich nie, mal selbst etwas zu versuchen. Daher kommt mein innerer Widerstand des “Anti-Handwerkers”, der sich kaum an etwas heran traut und “zwei linke Hände” hat. Bei einer zweiten Szene waren Bekannte meiner Eltern zum Essen eingeladen. Nach dem Essen unterhielt ich mich noch mit ihnen, erzählte von der Schule. Plötzlich sagte mein Vater: “Wenn Erwachsene reden, haben die Kinder auch mal Pause.” Sowas hinterlässt Spuren in der kindlichen Seele. Das Kind lernt, dass es nicht so gut und wichtig ist wie die Erwachsenen. Bis heute fühle ich mich unwohl in der Gegenwart von sehr autoritären Menschen. Die Erkenntnis, dass solch eine Herabsetzung ein Grund für mein geringes Selbstwertgefühl sein könnte, kam mir erst spät. Aber reicht eine verhältnismäßig kleine Herabsetzung aus, mein Selbstwertgefühl so tief und grundlegend zu stören, dass ich sogar stotterte? Das glaube ich nicht. Ich stotterte, seit ich sprechen kann. Mein Bruder stotterte auch, wenn auch nicht ganz so schlimm. Und mein Vater hatte als Kind auch gestottert. Mein Großvater in Ostpreußen war wohl ein sehr autoritärer Mensch. Hatte er als Kind ebenfalls gestottert? Gab es ein Schlüsselereignis in der Familie, das dazu geführt hat, dass die empfundene Minderwertigkeit einschließlich des Stotterns sich über mindestens eine Generation vererbt hat? Vielleicht werde ich es eines Tages herausfinden. Ich glaube jedoch nicht, dass es innere Widerstände gibt, vererbt oder erworben durch traumatische Erlebnisse, die unüberwindbar sind. Man kann alles überwinden. Davon bin ich überzeugt. Meine Entwicklung inklusive der jüngsten Fortschritte beweisen das. Gleichwohl werden die inneren Widerstände immer leise im Hintergrund bleiben, wie vage Erinnerungen, die dann aber keine Macht mehr über mich haben.

Vor einem Jahr kaufte ich eine Videokamera. Das Geld war da und ich wollte den nächsten Schritt gehen. Aber die unsichtbare Mauer hielt mich davon ab, anzufangen. Und es gab immer Gründe, warum es besser war, noch nicht mit dem regelmäßigen Produzieren von Videos zu beginnen. Mein Arbeitszimmer musste erst fertig sein. Das ehemalige Kinderzimmer unserer Tochter war mehr oder weniger Abstellkammer und Vorratsraum geworden. Mein Computer stand im Wohnzimmer. Wenn ich es wirklich gewollt hätte, wenn ich der Meinung gewesen wäre, dass es der richtige Zeitpunkt war, dann hätte ich es einfach getan. Aber ich war anscheinend noch nicht weit genug gekommen bei der Überwindung meiner bedeutsamsten inneren Widerstände.

Ende August wurde ich krank. Irgendeine unbekannte Infektion hatte mich erwischt. Husten bekomme ich seit Jahren immer schnell. Ein Lungenarzt bescheinigte mir mal ein ”beginnendes Asthma”. Und an chronischem Schnupfen litt ich schätzungsweise 90% meines Lebens. Also alles nicht neu. Dazu kam allgemeines Unwohlsein. Die Krankheit ging nicht weg. Stattdessen kamen weitere Symptome dazu. Bei Müdigkeit, also in den Abendstunden oder auch nachmittags, wenn der Tag anstrengender war, bekam ich heftigen Schüttelfrost. Nach Wärmezufuhr im Bett stieg die Körpertemperatur auf 39,5 Grad, ein paar Mal sogar auf über 40 Grad. Dann hörte das Frieren auf und ich begann langsam, wieder abzukühlen. Nach einer Woche Krankheit begann ich, einen guten Sinn darin zu sehen. Einmal meditierte ich im Bett, als ich frierend und mit heißen Wärmekissen langsam erwärmte. Dabei vergaß ich, die Wärmezufuhr zu beenden, als ich aufhörte zu frieren. Das Fieber stieg auf über 40 Grad und während der Meditation durchlebte ich einen Klartraum. Antworten kamen, wunderbare Erkenntnisse. Es war wie der Ritt auf einem Vulkan. Ich wusste: Die Krankheit symbolisiert meinen Kampf mit meinen inneren Widerständen. Erst wenn ich diese überwunden hätte, würde sie weggehen. Zu dem Zeitpunkt dachte ich noch, die bloße Erkenntnis des Problems würde zu einer Heilung führen. Das war jedoch nicht der Fall. Aber ich konnte auch keine Videos produzieren, solange ich so krank war. Ich schob mein Vorhaben also weiter auf.

Dennoch litt ich nicht unter der Krankheit. Nicht ein Mal. Seit 2018 bewerte ich das, was geschieht, nicht mehr. Es gibt keine negativen Emotionen dabei, weil ich nichts gegen das habe, was geschieht. Stattdessen weiß ich um den guten Sinn, der in allem Schlechten verborgen ist und den man nur suchen und finden muss. Gott greift vielleicht nicht immer direkt in mein Leben ein, aber er versieht in jedem Fall alles, was ich erlebe, mit gutem Sinn. Trotz der Krankheit war ich immer guter Stimmung. Leiden, Verzweiflung, Niedergeschlagenheit und ein Ankämpfen gegen das, was ist, kamen nicht vor. Stattdessen übte ich mich in Geduld, suchte den guten Sinn, der in meiner Weiterentwicklung verborgen war, und machte das Beste daraus.

Im Oktober bekam ich eine Armvenenthrombose, bei der meine Achselhöhle sehr schmerzte und mein rechter Arm um das Doppelte anschwoll. Im Dezember bekam ich eine Darmentzündung. Das waren nur die wichtigsten Folgesymptome meiner Krankheit. Die Ärzte waren ratlos. Ständig waren die Entzündungswerte im Blut sehr hoch. Ich war entschlossen, alles zu tun, um die Krankheit zu diagnostizieren. Obwohl ich die Krankheit akzeptierte, tat ich auf der anderen Seite alles, um gesund zu werden. Eine Zeit lang ging ich auch zu einem Alternativmediziner. Der konnte mir zwar mit Homöopathie nicht helfen, aber er diagnostizierte, dass ich Symptome einer bakteriellen Infektion zeigte, ohne wirklich infiziert zu sein. Der Körper glaubte nur, infiziert zu sein und entwickelte die Symptome, ähnlich einer Autoimmunkrankheit. Diese interessante Theorie brachte mich allerdings nicht weiter. Im Februar waren die Schüttelfrostanfälle nur noch alle zwei bis drei Tage. Allgemein ging es mir etwas besser, besonders vormittags, so dass ich wieder ein paar Coaching-Aufträge annehmen konnte. Diese hatte ich seit Oktober einstellen müssen. 

Ich erkannte, dass der gute Sinn in meiner Krankheit vielfältig war. Über allem stand die Überwindung meiner inneren Widerstände, die mich von meiner Entwicklung abhielten. Die Angst, nicht gut genug zu sein, die ich eigentlich bereits überwunden hatte und gut beobachten konnte. Dieser innere Widerstand hielt mich irgendwie noch immer davon ab, deutlicher an die Öffentlichkeit zu gehen. Aber es gab noch viel mehr guten Sinn! Ich war nun ein halbes Jahr krank, mit fast täglichen Symptomen, die unangenehm waren. Die Abende verbrachte ich meist frierend im Bett. Für den Organismus war das häufige Fieber auch eine Belastung, das spürte ich. Aber ich war glücklich, besonders seit ich wieder Menschen in ihre glückliche Zukunft begleiten durfte. Durch die Krankheit ließ ich mich nicht im geringsten psychisch beeinflussen. Ich schaffte es über die gesamte Krankheitsdauer, sie zu akzeptieren und nicht negativ zu bewerten. Allein diese Tatsache bewies, welche große Stärke ich bereits erlangt hatte. Ich weiß seitdem ganz sicher, dass ich allem Schlechten, das mir jemals widerfahren wird, standhalten kann. Gott ist immer da, um dem Erlebten einen guten Sinn zu verleihen. Gleichzeitig verleiht er mir die Stärke, die notwendig ist, um richtig zu handeln. Man könnte auch sagen, die Kraft steht mir zur Verfügung, weil ich sie nicht vergeude mit Leiden und dem Kampf gegen das, was geschieht.

Gemeinsam mit meinem Hausarzt bewarb ich mich in der immunologischen Ambulanz der medizinischen Hochschule Hannover. Im März bekam ich einen Termin für Ende September. Im Mai 2022 riet mir ein alter Schulfreund, der als Arzt arbeitet, meine Herzklappen auf eine Entzündung untersuchen zu lassen. Als ich mir im Internet deren Symptome anschaute, fand ich sehr viele Übereinstimmungen. Schüttelfrost, Fieber, Thrombosen, Husten, das alles waren typische Symptome einer Herzklappenentzündung. Im Schluckultraschall war jedoch nichts zu sehen. Der Kardiologe empfahl mir ein PET-CT, weil man damit Entzündungsherde im Körper sichtbar machen könne. Mein Onkologe erreichte bei der Krankenkasse die Genehmigung dieser teuren Untersuchung. Leider gab es wieder einmal keinen Befund. Im Sommer wurden die Symptome etwas besser. Die Wärme tat mir gut. Der Schüttelfrost kam im Schnitt nur alle zwei Wochen ein bis zwei Mal. 

Ende September wurde ich in der MHH untersucht. Es wurde viel Blut abgenommen. Die Befunde stehen noch aus. Dreizehn Monate bin ich nun schon krank. Ich wusste während des ganzen Sommers, dass ich am Ende des Sommers meine inneren Widerstände überwinden würde. Das kommunizierte ich auch mit Menschen in meinem Umfeld. Und ich war Gott bereits jetzt dankbar dafür, dass ich nach der langen Zeit endlich den nächsten Entwicklungsschritt gehen durfte. Gleichzeitig ahne ich, dass die MHH den Grund für meine Krankheit entdecken und ich nach kurzer Therapie endlich gesund werde. Und ich ahne, dass man am Ende nicht wird sagen können, ob ich durch die Therapie gesund wurde oder durch die Überwindung meines größten inneren Widerstandes.

Im Sommer wurde ich auf einen Gedanken des amerikanischen Autors Neale Donald Walsch aufmerksam. Der sagte sinngemäß, dass unser wahres Ich hinter der Mauer unserer inneren Widerstände läge und dass wir nur zu uns selber fänden, wenn wir durch diese Widerstände hindurch gingen. Seit er das weiß, würde er sich freuen, wann immer er einen neuen inneren Widerstand bei sich entdeckt, denn dann würde er sich freudig mitten hinein stürzen, um dahinter zu sich selbst zu gelangen. Der Gedanke begeisterte mich. Und ich probierte ihn gleich aus. Wir waren zu Bekannten eingeladen. Es sollte frisch geräucherten Fisch geben. Ich mag keinen Fisch. Schon immer verabscheute ich den typischen Fischgeschmack, obwohl das Essen selbst oft sehr lecker aussah. Ich beschloss, diesen inneren Widerstand zu überwinden, indem ich mich hineinstürzte. Und tatsächlich schmeckte es mir sehr gut. Ich war sehr glücklich darüber, auf diese Weise nicht nur meinen Ekel, sondern auch meinen inneren Widerstand überwinden zu können. Dies sollte eine Blaupause für die Überwindung meines größten inneren Widerstandes sein.

Bevor ich in der Lage war, das Auftaktvideo zu produzieren, musste ich noch eine weitere Erfahrung machen, die wichtig für meine Entwicklung war. In den letzten Jahren war mir immer wieder bewusst geworden, dass ich in die Öffentlichkeit gehen muss, damit mehr Menschen aus meinen Erfahrungen lernen können. Außer meinem Hauptwiderstand, nicht gut genug zu sein, gab es noch einen zweiten. Dieser hatte etwas mit meiner Identifikation mit meinem Ego zu tun. Ich hatte Angst, der Erfolg oder Misserfolg würde mein Selbstwertgefühl beeinflussen. Deshalb wollte ich so lange warten, bis ich die Identifikation mit meinem Ego überwunden hatte. Doch mir kam erst in der Woche vor dem 3. Oktober die Erkenntnis, dass das eigentlich schon lange kein Problem mehr darstellte. Ein Bildungsträger, für den ich Coaching-Aufträge annahm, veranstaltete eine Weiterbildung zum Thema “Die richtig gute Bewerbung”. Wir sollten dafür Beispiele einsenden, die dann gemeinsam besprochen wurden. Ich freute mich sehr darauf. Zum einen, weil ich gern von anderen Coaches lerne, zum anderen weil ich neue Kolleginnen und Kollegen kennenlernen konnte.

Das Seminar war sehr gut. Meine Erwartungen wurden voll erfüllt. Am Schluss der Veranstaltung sagte die liebe Kollegin, die das Seminar leitete, sie wolle noch den schönsten Lebenslauf zeigen, den sie bisher gesehen hat, nämlich meinen. Ich freute mich, dass ich meine Kollegin mit meinem Lebenslauf begeistern konnte. Auch freute ich mich, dass vielleicht einige Kollegen für sich die eine oder andere Anregung mitnehmen konnten. Aber mir war auch bewusst, dass die Geschmäcker verschieden sind und manche die geäußerten Superlative nicht teilen würden. Und das fand ich auch gut. Wir sind nun mal alle verschieden und sehen die Dinge aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Mir wurde bewusst, dass trotz dieses riesigen Lobes mein Selbstwertgefühl weder gehoben noch gesenkt wurde. Dies war die Erfahrung, die ich benötigte, um die letzte Motivation, den letzten Anstoß zu erhalten, um endlich das Auftaktvideo zu produzieren. Denn mir war klar geworden, ich würde weder durch positive noch negative Aufmerksamkeit beeinflusst werden. Das Wissen habe ich schon lange, aber in mein Unterbewusstsein konnte es erst durch die neue Erfahrung gelangen, durch das große Lob meiner lieben Kollegin.

Vor dem langen Wochenende mit dem Feiertag am 3. Oktober wusste ich: An diesem Wochenende soll es soweit sein. Ich werde mein erstes Video produzieren, in dem ich unmittelbar zu den Menschen spreche. Am Freitag machte ich mir einen Plan und entwarf eine Gliederung für meine Rede. Am Samstag machte ich die Technik klar, einschließlich Greenscreen. Am Sonntag war Ruhetag. Am Montag, den 3. Oktober sollte es aber endlich soweit sein. Am Abend veröffentlichte ich auch wirklich das Video. Interessant ist jedoch, was danach geschah. Am späteren Abend kamen so viele Erkenntnisse, wie mich mein größter innerer Widerstand in meinem Leben beeinflusst hat und wie schwer er es mir gemacht hat. Im Grund wusste ich bereits um diese Zusammenhänge. Aber etwas war anders. Die unsichtbare Mauer, die ich nicht durchdringen konnte, war sichtbar geworden. Ich wusste nun, dass ich sie jetzt überwinden kann, zum Beispiel mit der Methode von Neale Donald Walsch. Eigentlich hatte ich sie bereits kurz überwunden, als ich das Video produziert und veröffentlicht hatte. Aber anschließend war die Mauer noch da, wie eine Ruine, die mich noch immer behindern kann auf meinem Weg, aber nicht mehr aufhalten.

Kommentare, die ich auf dieses Video bekam, erwähnten den Mut und die Offenheit, so zu reden. Mir war vorher gar nicht bewusst gewesen, dass viele Menschen, die ähnliche inneren Widerstände haben, und es sind sehr viele, bei meinem Video so empfinden würden. Da mir an dem Abend so viele Erkenntnisse kamen, beschloss ich, diesen Text zu schreiben, bevor ich mit den Videos weitermache.

Die Erkenntnisse, die ich nach der Veröffentlichung am Abend gewann, waren sehr umfangreich. Es war, als würde durch die Veröffentlichung eine Vielzahl an inneren Widerständen sichtbar werden, die sich vorher meinem Bewusstsein entzogen hatten. Mein ganzes Leben zog an mir vorbei. Ich erkannte zum Beispiel, dass meine Entscheidung, Soldat zu werden, auch mit meinem geringen Selbstwertgefühl zu tun gehabt hatte. Als Soldat hatte ich plötzlich eine starke Rolle, mit der ich meinen Selbstwert steigern konnte. Spaß hat es mir natürlich auch gemacht. Bereits als Kind habe ich Soldat gespielt, auch Cowboy und Indianer, Polizist oder Geheimagent. Alles starke, männliche Rollen. Das prägte meine Vorstellung von guter Männlichkeit: Gutes tun, stark sein, hart im Nehmen sein, eigene Nachteile inkauf nehmen. Damit konnte ich mich schon immer gut identifizieren. Das hat meiner Meinung nach nichts mit meinen inneren Widerständen zu tun, sondern ist Teil meiner angeborenen Persönlichkeit. Der Soldatenberuf war jedoch eine Rolle, die ich auch gern annahm, um mein Selbstwertgefühl aufzuwerten – bis ich mit 28 Jahren Vater wurde und mein Studium bei der Bundeswehr beendete. In dieser Zeit lernte ich, dass ich nicht der typische Soldat bin, der seinen eigenen Willen und seine Persönlichkeit am Kasernentor abgibt, um für den Dienstherrn, den Staat, in Gehorsam und Pflichterfüllung aufzugehen. Ich spürte, dass das Soldatsein nur eine Rolle war. Wer jedoch war ich dahinter? Diese Frage stand im Hintergrund, ohne ins Bewusstsein vorzudringen. Ich wusste, dass ich ein Mensch war, der das Gute tun wollte. Ich wollte Menschen helfen und Christsein im Leben umsetzen. Meine inneren Widerstände und meine erst in Ansätzen vorhandene Selbsterkenntnis prägten auch die Zeit nach der Bundeswehr, in der ich eine neue berufliche Rolle suchte und fand. Erst jetzt werden mir diese Zusammenhänge wirklich bewusst.

Auch erkenne ich seit dem Abend des 3. Oktober, dass mein angeblicher Perfektionismus bei der Videoproduktion überwiegend der Angst entsprang, nicht gut genug zu sein und von anderen abgewertet zu werden. Andere, die diesen inneren Widerstand nicht haben, hätten einfach ein Selfievideo aufgenommen und wären in einer halben Stunde fertig gewesen. Die Angst existiert aber eigentlich nicht mehr, denn ich habe sie in der Entwicklung der letzten Jahre überwunden. Ich identifiziere mich gar nicht mehr mit meinem Ego. Ich weiß, dass mein Wert absolut ist und nicht abhängig davon, wie ich von anderen wahrgenommen und beurteilt werde. Und doch existiert noch dieser innere Widerstand. Das zeigt mir, dass die inneren Widerstände nicht nur erkannt und mit dem Verstand durchdrungen werden müssen. Sie sind so tief im Unterbewusstsein verankert, dass sie durch positive Erlebnisse und Lernerfahrungen ersetzt werden müssen. Natürlich ist die Angst, nicht gut genug zu sein, nicht die alleinige Motivation zu einem möglichst perfekten Video. Der Respekt vor den Zuschauern gebietet mir, verständlich zu sein. Außerdem möchte ich so gut sein, wie es mir möglich ist. Ich glaube, das ist für die meisten Menschen normal.

Ich brauchte den ganzen Tag, um die fünf Minuten Video zu produzieren. Mehrmals fing ich an, verwarf das Aufgenommene wieder, war mit der Technik unzufrieden. Später fing ich erneut an. Mit fünfzehn Minuten war das Video zu lang für ein Auftaktvideo. Also fing ich erneut an. Am Abend war ich endlich fertig und zeigte es meiner Frau. Sie meinte, sie finde es gut, aber man spürte, dass ich irgendwie gehemmt wirke, nicht wie normal. Das zeigte mir, wie viel Arbeit es ist, diese ehemals unsichtbare Mauer zu durchdringen. Und obwohl ich mit dem Ergebnis nicht zufrieden war, veröffentlichte ich es. Und das war gut so. Es war nicht perfekt, und das war auch gut so. Es soll dokumentieren, an welchem Punkt ich angelangt bin. Allein die Tatsache, dass ich ins Handeln gekommen bin und endlich das erste Video veröffentlicht habe, war eine gute Erfahrung. Die Mauer gerät immer mehr ins Bröckeln. 

Gerade schreibe ich diesen Text und ich weiß, sobald ich ihn fertiggestellt und veröffentlicht habe, werde ich weiter machen mit den Videos. So lange Texte liest leider kaum jemand. Also werde ich meine Erkenntnisse eben noch auf andere Weise veröffentlichen. Es ist sicherlich interessant, meine jetzigen Entwicklungsschritte fast live mitzuverfolgen. Das Video zeigt, wie schwierig es mir gefallen ist, das Video zu produzieren und dass mich starke innere Widerstände behindern. Man wird in zukünftigen Produktionen den Unterschied merken. Ich werde mehr gute Erfahrungen sammeln, bis ich irgendwann diese inneren Widerstände ganz überwunden habe. Die Entwicklung ist noch nicht zu Ende. Sie wird auch nie am Ende sein. Niemand hat absolute Selbsterkenntnis, vielleicht bis auf ganz wenige Ausnahmen. Aber es ist immer ein großer Grund zur Freude, dem wahren Selbst ein Stück näher zu kommen. Wir sind seit unserer Kindheit verwickelt. Das eigene Wesen, die eigene Persönlichkeit, erscheint nicht wertvoll. Wir müssen erleben, dass wir zum Objekt von Bewertungen und Verurteilungen gemacht werden oder als Mittel zum Zweck für andere ge-  oder gar missbraucht werden. All das wickelt unser wahres Selbst ein. Jedes Mal, wenn wir uns wieder ent-wickeln, kommen wir unserem Selbst wieder näher. Das ist unsere größtmögliche Freude. Dazu gehört die Verbundenheit mit anderen Menschen. Sich zu ent-wickeln und gleichzeitig die Verbundenheit zu den Mitmenschen zu fühlen, so sieht der Sinn des Lebens aus.

Gustedt, 5. Oktober 2022
Stefan Garmeister