Mitgefühl statt Mitleid – Resilienz bei emotional belastenden Aufgaben

Mitgefühl statt Mitleid – Resilienz bei emotional belastenden Aufgaben

Viele Menschen erfüllen in ihrem Leben Aufgaben der Nächstenliebe, bzw. der Nächstenhilfe. Sie helfen anderen Menschen, mit Trauer, Krankheit, Problemen und anderem Leid fertigzuwerden. Sie kümmern sich oft um das Wohl von Menschen, die sich nicht selbst helfen können. Pflegende kümmern sich um alte, hilflose oder kranke Menschen. Ärzte und medizinisches Fachpersonal helfen Menschen, die krank oder verletzt sind. Lebensretter wie Feuerwehr und Rettungssanitäter helfen bei Unfällen und werden oft mit Leid konfrontiert. Auch Polizisten müssen, je nach Aufgabenbereich, mit Leid und Opfern von Gewalt umgehen. Und auch Seelsorger erfahren oft Situationen, die sie belasten und mit denen sie fertig werden müssen.

Solch helfende Menschen leiden oft wie der eigentlich Leidende selbst und müssen diese Gefühle verarbeiten. Sie erleben aus Empathie das Leid und die Gefühle anderer so, als hätten sie sie selbst erlebt, nicht selten sogar noch intensiver. Sie sind vielleicht insgeheim dankbar, nicht selbst so etwas durchleben zu müssen und haben oft keine Lösung für die betroffenen Menschen. Sie machen die Gefühle der anderen zu ihren eigenen. Das kann für die eigene seelische Gesundheit nachteilig sein. Nach Verlassen der belastenden Situation können sie nicht einfach abschalten und nehmen die Probleme anderer oft mit nach Hause.

Es kommt sogar häufig vor, dass sich die helfenden Menschen einen seelischen Panzer zulegen. Sie lassen das Leid der Menschen einfach nicht mehr an sich heran. Ich nehme das zum Beispiel oft bei medizinischem Personal wahr, das vielleicht eine besondere Art schwarzen Humors entwickelt. Daran erkennt man oft diesen Panzer. Sie lassen einfach kein Mitgefühl mehr zu. Sie schotten ihr Gefühlsleben ab gegen das Leid der Menschen, denen sie eigentlich aus Überzeugung helfen wollen. Der Nachteil ist dabei, dass man durch dieses „abstumpfen“ wirklich nicht mehr so viel mitempfindet wie man es normalerweise tun würde. Das liegt aber nicht im Wesen dieser Menschen, denn normalerweise sind sie sehr wohl willens und in der Lage, Mitgefühl zu empfinden und zu zeigen. Oft haben sie ihren Beruf genau deshalb gewählt: um anderen Menschen zu helfen. Dieses Abstumpfen ist also ein Selbstschutz, um eine Tätigkeit ausüben zu können, die Mitgefühl voraussetzt, aber bei denen man zu sehr selbst (mit-)leidet.

Echtes Mitgefühl erfordert Liebe. Ohne Liebe verwandelt sich das Mitgefühl in bloßes Verstehen. Hat man sich einen solchen Panzer zugelegt, schwindet die Liebe. Man kann seinen eigentlich wunderbaren Beruf nicht mehr mit Hingabe ausüben. Das Stressniveau steigt. Die berufliche Unzufriedenheit wächst. Bei einer psychologischen Therapie ist das im Allgemeinen sogar Programm: Der Therapeut bewahrt bewusst Distanz, um die Situation des Patienten ausschließlich mit dem Verstand erfassen zu können. Sowohl als Seelsorger wie auch als Coach handhabe ich das bewusst anders. Ich versenke mich bewusst mit Liebe und Mitgefühl in den anderen Menschen, um seine Gefühle nachvollziehen zu können. Ich lasse mich vollkommen auf den Menschen ein. Aus vielen positiven Rückmeldungen weiß ich, wie angenehm diese Vorgehensweise ist im Vergleich zu einer psychologischen Therapie.

Die moderne Hirnforschung hat entdeckt, was physiologisch im Gehirn geschieht, wenn ein Mensch mit dem Leid anderer konfrontiert wird. Es gibt sogenannte Spiegelneuronen, die aktiv werden und Impulse feuern, um die Gefühle der Leidenden zu spiegeln. Dadurch kann der Mensch nachempfinden, was ein anderer fühlt.

In meiner beruflichen Tätigkeit als Coach habe ich mehrere Menschen kennengelernt, bei denen die Empathie so ausgeprägt war, dass sie die Gefühle fremder Menschen durch bloße Nähe fühlen können. Sie sind „hellfühlig“. Ein junger Mann, der seit seiner Kindheit an einer schweren Krankheit leidet, erzählte mir, dass er es vermeidet, mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu fahren. Es würden ständig alle möglichen Gefühle auf ihn einströmen. Damit würde er nicht fertig werden.

Ich erzählte ihm von den Vorgängen im Gehirn. Von den Spiegelneuronen. Das, was er wahrnahm, waren die Gefühle der anderen Fahrgäste. Seine Spiegelneuronen feuerten ständig. Das verwirrte und überforderte ihn. Aber diese Gefühle waren nicht seine eigenen! Es waren lediglich Simulationen der Gefühle anderer, die sein Gehirn produzierte. Ich riet ihm zu versuchen, wirklich eigene Gefühle von den Gefühlssimulationen anderer zu unterscheiden. Dieser Rat allein bewirkte eine große Verbesserung bei dem jungen Mann. Seitdem machte er große Fortschritte. Heute kann er wieder problemlos mit Bus und Bahn fahren und muss keine Menschenmengen mehr meiden.

Diesen Unterschied zwischen eigenen Gefühlen und den emphatisch ausgelösten Gefühlen anderer führten bei mir zu einem weiterführenden Gedanken: Ich unterscheide zwischen Mitleid und Mitgefühl. Es gibt unterschiedliche Definitionen dieser Begriffe, die ich teilweise wunderbar finde. Dennoch führe ich eine neue Definition ein, die den Menschen helfen soll, mit dem Leid anderer umzugehen.

Mitleid ist nach meiner Definition ein emphatisches Mitgefühl, bei dem Menschen sich nicht bewusst sind, dass es nicht ihre eigenen Gefühle sind. Sie identifizieren sich mit den Leidtragenden so sehr, dass keine Distanz besteht. Man versteht nicht nur die Gefühle der anderen, sondern leidet selbst, weil man gefühlsmäßig an die Stelle des anderen tritt. Man bewertet den Schmerz als großes Übel und leidet, oft mehr als der Betroffene selbst. 

Ich habe es weitestgehend geschafft, durch Nichtbewerten von dem, was geschieht, unter Schmerz und unangenehmen Situationen nicht mehr zu leiden. So habe ich auch jegliches Mitleid (nach meiner Definition) verbannt aus meinem Leben.

Und dennoch vermag ich, mit anderen tiefes Mitgefühl zu empfinden. Mit großer Empathie nehme ich die Sorgen und Nöte anderer an und fühle sie nach. Ich weiß, wie sich meine Mitmenschen fühlen, wie sehr sie vielleicht leiden. Und ich kann mit ihnen weinen.

Aber ich leide nicht. Mir ist bewusst, dass es nicht meine eigenen Gefühle sind, die ich mitempfinde. Wenn jemand in Trauer ist, spreche ich ihm mein tiefes Mitgefühl aus. Vielleicht frage ich: „ Wie fühlst du dich heute?“ Wenn es richtig ist, biete ich meinen Beistand an. Manchmal hilft es Trauernden, zu spüren, sie sind nicht allein. Aber ich spreche keinesfalls mein Mitleid aus. Viele Menschen wollen auch kein Mitleid. Das empfinden sie als zudringlich oder fehlplatziert. Fragen wie: „Wie kommst du zurecht?“ „Kann ich dir helfen?“ und gegebenenfalls beste Wünsche für die nächste Zeit sind mehr wert, als ein mitleiden, das vielleicht sogar unangemessen ist. Wenn ich Leidende fragen würde, ob ich mitleiden soll, würden viele Menschen vermutlich dankend ablehnen. Aber mein ehrliches Mitgefühl ist heilend.

Es gibt zwei Arten des Mitgefühls. Je nachdem, wie groß der Anteil der Liebe beim Mitgefühl ist, kann man unterscheiden. Wenn man aus der Liebe heraus mit anderen mitfühlt, dann begibt man sich freiwillig in die Lage des anderen und empfindet seine Gefühle nach. Man versteht den anderen und ist bereit, zu helfen oder einfach da zu sein und das Leid des anderen zu teilen. Man ist bereit, zu dem anderen eine Verbindung aufzubauen, die von allgemeiner, göttlicher Liebe mit Kraft versehen wird. Auf diese Weise ist es dem anderen eher möglich, die notwendige Kraft zum Ertragen, zur Veränderung oder zum Verlassen der Situation aufzubringen.

Die andere Art des Mitgefühls, ist eine rein verstandesmäßige Wahrnehmung. Das „Herz“, also das liebende Mitfühlen, spielt kaum eine Rolle. Als Extremfall möchte ich psychopathische Menschen anführen, die zwar genau verstehen, was ein anderer Mensch fühlt, aber im Gehirn keine ähnlichen Gefühle durch Spiegelneuronen entstehen. Auf diese Weise nutzen sie die Gefühle des anderen aus und handeln völlig ohne Gefühl. Sie handeln egoistisch. Wenn sie anderen Menschen helfen, dann nur aus Berechnung. Eine solche krankhafte Psychopathie ist wohl nicht häufig. Jeder Mensch wird aber schon Psychopathen begegnet sein. Unter Führungskräften ist der Anteil etwas höher als in der übrigen Bevölkerung; Macht zieht Narzissten und Psychopathen an.

Echtes Mitgefühl kommt aus der Liebe. Oft sind wir in der Lage, mitzuweinen. Wir erlauben bereitwillig eine Verbindung von Herz zu Herz, so wie es Jesus auch getan hat. Er hat oft mit und um die Menschen geweint. Er hat keinen Panzer aufgebaut um seine Seele. Er hat hat es geschafft, selbst nicht am Mitleid zu leiden. Jesus hat es geschafft, trotz seines Mitgefühls nicht am Leid der Menschen zu scheitern.

Gelassenheit – Die Kunst, Dinge nicht zu bewerten

Es gibt einen weiteren Grund, warum ich es schaffe, Mitleid von Mitgefühl zu unterscheiden. Oben klang es bereits an. Das möchte ich in diesem Abschnitt erläutern.

Ich lebe nach dem Vorsatz, Dinge nicht vorschnell zu bewerten und mit einem negativen Gefühl zu verbinden. Im Englischen heißt es: „A blessing in disguise“ („ein Segen in Verkleidung“). Hamlet stellt im Gespräch mit Rosencranz fest: „…, for there is nothing either good or bad, but thinking makes it so. („…, denn an sich ist nichts weder gut noch schlecht, das Denken macht es erst dazu.) 

Gott versieht alles, was geschieht, für uns mit gutem Sinn, der uns ihm näher führt. Apostel Paulus hatte diese Erkenntnis ebenfalls. Im Römerbrief schrieb er:

„Das eine aber wissen wir: Wer Gott liebt, dem dient alles, was geschieht, zum Guten. Dies gilt für alle, die Gott nach seinem Plan und Willen zum neuen Leben erwählt hat.“ – ‭‭Römer‬ ‭8,28‬ ‭HFA

Im Gegensatz zu Shakespeare hat das bei Paulus natürlich einen religiösen Hintergrund. Ein uneingeschränktes Gottvertrauen entsteht aus dem Bewusstsein der bedingungslosen und absoluten Liebe Gottes zu allen Menschen. Welche liebenden Eltern möchten nicht, dass ihr Kind glücklich ist? Genauso ist es bei Gott. Er würde niemals zulassen, dass etwas Schlechtes, das uns widerfährt, ohne einen guten Sinn bleibt. Es ist sehr hilfreich, das Nichtbewerten mit Gottvertrauen zu erreichen. Aber auch Menschen ohne den Glauben an die bedingungslose Liebe Gottes können es erreichen.

Wir Menschen sind in der Lage, Dinge, die uns geschehen, entgegen unserer Gewohnheit nicht zu bewerten. Dies haben bereits vor 2500 Jahren die stoischen Philosophen erkannt und gelehrt. Zu Beginn ist es eine Willensentscheidung, das was geschieht, nicht zu bewerten, denn jahrelange Gewohnheit kann man nicht einfach abschalten. Einerseits ist uns dann bewusst, dass für uns ein guter Sinn vorhanden ist, auf der anderen Seite können wir dadurch die notwendige Geduld aufbringen, auf den rechten Augenblick warten zu können, wenn wir den guten Sinn irgendwann erkannt haben. Das, was aus allgemeiner Sicht schlecht ist, führt bei uns nicht mehr zu Leid. Das Leiden entsteht, wenn wir gegen das ankämpfen, was geschieht, wenn wir gern anderes erleben möchten und unzufrieden sind. Wenn wir aber nicht bewerten, sondern auf den guten Sinn vertrauen und danach suchen, finden wir den Weg zum Glück. Alles Schlechte hat auch sein Gutes. Und wenn wir auf dieses Gute warten und es zu gegebener Zeit für uns nutzen, ist das der Schlüssel zu einem glücklichen Leben.

Das Nichtbewerten von dem, was geschieht, ist ein guter Weg, um das zu erreichen, von dem der Theologe Reinhold Niebuhr in seinem Gelassenheitsgebet sprach:

„Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.“

Das schnelle Bewerten von Dingen in Verbindung mit einem negativen Gefühl hindert uns sowohl daran, gelassen zu bleiben, als auch die Kraft aufzubringen, sie zu ändern, wenn sie geändert werden können und wenn es gut ist, sie zu ändern.

Die aus Urvertrauen entstehende Gelassenheit und Hoffnung erlaubt es uns, Widrigkeiten des Lebens zu tragen und dennoch glücklich zu sein. Sie erlaubt es uns aber auch, ganz und gar mit anderen Menschen mitzufühlen und sich gleichzeitig gegenüber schlechten Gefühlen des Leidens zu schützen, so dass das eigene Glücklichsein und die eigene Gesundheit bewahrt werden.

Im Hinblick auf die Unterscheidung zwischen Mitleid und Mitgefühl bewerte ich ebenfalls nicht, was geschieht. Ich selbst leide nicht und ich werde, so Gott will, nie mehr leiden, weil ich das Unangenehme einfach nicht emotional bewerte. Genauso weiß ich aber auch nicht, welch Gutes im Erleben der anderen Menschen verborgen ist. Natürlich weiß ich, dass andere das in der Regel anders sehen. Sie leiden. Und sie haben mein tiefes Mitgefühl. Sie glauben im Leid nicht an das Gute und bewerten es als schlecht. Deshalb ist es gut, ihnen den Schmerz zu lindern, ihnen zu helfen, das Leiden zu überwinden, ihnen meines Beistandes zu versichern und für sie da zu sein. Es ist gut, den Nächsten zu lieben und in dieser Nächstenliebe tätig zu werden

Gustedt, im Februar 2022