Gelassenheit – Das Annehmen des Augenblicks

“Ich habe nichts gegen das, was geschieht.“

 

 

Dieses sagte der Philosoph und spirituelle Lehrer Jiddu Krishnamurti am Ende seines Lebens, um zu erklären, was das tiefe Geheimnis seiner Lehre sei. Viele Menschen haben Ängste und Sorgen, die sie ständig vom Glücklichsein abhalten. Andere klagen unentwegt über ihre gegenwärtige Lage oder über das, was sie oder andere erleben mussten. Solche Einstellungen können sehr verhängnisvoll sein für alles, was diese Menschen erleben und für alle Begegnungen mit anderen Menschen. Negative Gedanken beherrschen das Leben. Eine alte chinesische Parabel aus dem 2. Jahrhundert vor Christus verdeutlicht wie unglücklich man wird, wenn man den gegenwärtigen Augenblick nicht annimmt, sondern vorschnell bewertet.

Glück im Unglück – Unglück im Glück
Glück und Unglück erzeugen sich gegenseitig und es ist schwierig ihren Wechsel vorauszusehen. Ein rechtschaffener Mann lebte nahe der Grenze. Ohne Grund entlief ihm eines Tages sein Pferd auf das Gebiet der Barbaren. Alle Menschen im Dorf bedauerten ihn. Sein Vater aber sprach zu ihm: „Wer weiß, ob das nicht Glück bringt?“ Mehrere Monate später kam sein Pferd zurück mit einer Gruppe guter, edler Barbarenpferde. Alle Leute beglückwünschten ihn. Sein Vater aber sprach zu ihm: „Wer weiß, ob das nicht Unglück bringt?“ Ein reiches Haus hat gute Pferde und der Sohn stieg mit Freuden auf, liebte das Reiten. Dabei fiel er und brach sich ein Bein. Es blieb vekrüppelt. Alle Leute bedauerten ihn. Sein Vater aber sprach zu ihm: „Wer weiß, ob das nicht Glück bringt?“ Ein Jahr später fielen die Barbaren über die Grenze ein. Die erwachsenen Männer bespannten ihre Bögen und zogen in den Kampf. Neun von zehn Grenzbewohnern wurden dabei getötet, vom Dorf alle mit Ausnahme des Sohnes wegen seines gebrochenen Beins. Vater und Sohn überlebten. Daher: Unglück bewirkt Glück und Glück bewirkt Unglück. Dieses passiert ohne Ende und niemand kann es abschätzen.

Dieses Wissen ist auch in unserer Kultur vorhanden. Es zeigt sich in Redensarten wie: „Glück im Unglück haben“ oder „Wer weiß schon, wozu das gut sein wird.“ Im Englischen heißt es: „A blessing in disguise“ („ein Segen in Verkleidung“). Hamlet stellt im Gespräch mit Rosencranz fest: „…, for there is nothing either good or bad, but thinking makes it so. („…, denn an sich ist nichts weder gut noch böse, das Denken macht es erst dazu.) Die Lösung für viele solcher Schwierigkeiten und schlechten Gefühle ist es, den gegenwärtigen Augenblick anzunehmen. Alles Unglücklichsein hat seinen Ursprung in der Ablehnung des gegenwärtigen Augenblicks. Wir möchten ständig einen späteren Augenblick erleben. Der gegenwärtige ist lediglich Mittel zu einem Zweck, der in der Zukunft liegt. Wir wollen der Gegenwart entfliehen, weil wir sie ablehnen. Fast allen Menschen geht es so. Manchmal jedoch ist diese Ablehnung der Gegenwart so groß, dass solches Leid erzeugt wird, dass man kaum seinen Alltag leben kann. Ängste, Depressionen und andere seelisch-geistige Störungen beherrschen die Menschen, ebenso Krankheiten und andere Drangsale.

Wir dürfen glauben, dass alles, was uns geschieht, von Gott beobachtet und beeinflusst wird. Wir können dann ganz sicher sein. Sicher, dass nichts zufällig geschieht. Sicher, dass er uns Wege im Leid zeigt. Sicher, dass alles, was geschieht, Teil des Planes Gottes für uns ist. Richtig, Gott hat einen Plan mit uns! Und er möchte, dass wir glücklich sind. Welcher Vater und welche Mutter möchte denn nicht, dass sein Kind glücklich ist? Durch seine Gegenwart will er uns Liebe, Frieden und Freude erleben lassen, was immer auch die Gegenwart mit sich bringt. Und oft zeigt er uns, dass wir uns auf einem Weg befinden, der nicht zum Glück führt. Das empfinden wir vielleicht als ungerecht oder nehmen es zum Anlass, mit Gott zu hadern. Aber das geschieht nur deshalb, weil wir gar nicht ernsthaft versuchen, den Sinn von Allem zu verstehen. Wichtig ist, den Augenblick nicht als gut oder schlecht zu bewerten, sondern offen zu sein für den Sinn des Augenblicks, der sich oft erst im Nachher zeigt. Vorschnelles Bewerten hindert dich daran, den Sinn im gegenwärtigen Geschehen zu entdecken. Vielmehr wirst du Sklave deines Ichs. Es wird für Alles den Augenblick geben, an dem wir erkennen, was der liebe Gott mit uns vorhat. Manches werden wir erst in der Ewigkeit erfahren. Vieles erfahren wir jedoch schon heute, denn Gott möchte ja, dass wir glücklich sind. Vielleicht könnten wir sogar alles erfahren, wenn wir nur still genug wären, um Gott zuzuhören. Und wir können beeinflussen, ob wir Gottes Plan erkennen! Indem wir ihn fragen. „Was möchtest Du, was ich tue?“ Wie möchtest Du mich haben?“ „Welchen Sinn hat das, was ich erlebe?“ Unser himmlischer Vater erfüllt alles mit einem Sinn, wenn wir darauf vertrauen. Wenn wir dieses Vertrauen nicht haben, hat Vieles wirklich keinen Sinn. Dann geht es uns wie den meisten Menschen. Alles, was geschieht, ist das Werk von Menschen oder dem Zufall. Gott möchte, dass wir glücklich sind. Dieses Glück erreichen wir, wenn wir den Sinn in Allem suchen und erkennen. Gott versieht alles sehr gern für uns mit einem Sinn. Das mag sich wie Spinnerei anhören, unwirkliches Wunschdenken. In der Naturwissenschaft ist das aber ähnlich:

Aus der Quantenphysik wissen wir, dass Materie andere Eigenschaften hat, wenn wir sie beobachten. So zeigt das Doppelspalt-Experiment, dass das Licht mal Eigenschaften von Wellen hat und mal die Eigenschaften von Teilchen. Je nachdem, ob die Photonen beobachtet werden, haben sie andere Eigenschaften. Quanten, also kleinste Teilchen, haben von Natur aus keine festen Eigenschaften. Sie existieren lediglich als ihre Eintrittswahrscheinlichkeit. Erst wenn das Teilchen mit etwas wechselwirkt, zum Beispiel wenn wir ein Photon, ein Lichtteilchen, beobachten, nimmt es reale Eigenschaften an. Es ist dann genau an dem Ort, an dem wir es beobachtet haben. Vorher sahen wir es nur als Wahrscheinlichkeit, an allen möglichen Orten zu sein. Es sollte uns nicht schwer fallen zu glauben, dass Gott alles mit einem Sinn versieht, wenn wir auf ein Ereignis oder eine Entwicklung schauen und ihm vertrauen. Die Naturwissenschaft zeigt uns, dass es dieses Prinzip gibt. Wir brauchen es nur zu übertragen. Der Schlüssel, den Drangsalen zu entfliehen, ist es, nicht dem Augenblick zu entfliehen. Stattdessen nimm den Augenblick an wie er ist, werde eins mit ihm. Es klingt gegensätzlich, etwas anzunehmen, was einem nicht gefällt. Aber das ist es nicht. Die Umstände, in denen du dich befindest, sind weder gut noch schlecht. Sie sind einfach wie sie sind. So wie es uns die chinesische Parabel zeigt. Aber auch die Heilige Schrift lehrt uns, dass das Bewerten als gut oder böse nicht gut für uns ist. Das bedeutet, dass eine Gemeinschaft mit Gott so nicht möglich ist.

„Und Gott der Herr gebot dem Menschen und sprach: Du darfst essen von allen Bäumen im Garten, aber von dem Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen sollst du nicht essen; denn an dem Tage, da du von ihm isst, musst du des Todes sterben.“ – 1. Mose 2, 16.17

Es kann sein, dass sich dein Verstand meldet. Vielleicht fragt er dich, was das jetzt alles soll. Er drängt dich, an später zu denken. Er will nicht, dass du ganz in diesem Augenblick lebst. Wenn du so etwas erlebst, dann mache dir diese Gedanken bewusst. Und lächle über sie. Der Widerstand, mit dem du dem Augenblick entgegentrittst, kostet Kraft und hindert dich daran, das Jetzt zu genießen und es für ein Handeln oder auch Nichthandeln zu nutzen. Diese Kraft, die dein Widerstand gekostet hat, steht dir nun zur Verfügung. Du kannst sie für alles nutzen, was dir gefällt. Du kannst nun Wunderbares erleben. Auch Jesus lehrte seine Jünger, keine Gedanken an die Zukunft, zu verschwenden: „Darum auch ihr, fragt nicht danach, was ihr essen oder was ihr trinken sollt, und macht euch keine Unruhe. Nach dem allen trachten die Heiden in der Welt; aber euer Vater weiß, dass ihr dessen bedürft. Trachtet vielmehr nach seinem Reich, so wird euch dies zufallen.“ – Lk. 12, 29-31

Bei Matthäus wird das Gleiche beschrieben. Da heißt es sogar: „Wenn aber dein Auge böse ist, so wird dein ganzer Leib finster sein. Wenn nun das Licht, das in dir ist, Finsternis ist, wie groß wird dann die Finsternis sein!“ Dein Auge soll Licht sein. Damit meint Jesus, dass die Sorgen und Ängste nicht deine Seele verdunkeln sollen. Wenn du den gegenwärtigen Augenblick ablehnst, verdunkelt sich deine Seele. Du bist dann nicht in der Lage, die Nähe Gottes zu spüren. Der Weg, den Augenblick anzunehmen, ist, ihn einfach zuzulassen wie er ist. Indem du das Gegenwärtige zulässt, bewertest du es nicht mit deinem Verstand, der es als gut oder böse sieht. Du nimmst es an wie es ist. Das bedeutet nicht, dass du dann glücklich bist. Bist du gerade in Trauer, weil du einen geliebten Menschen verloren hast, kannst du kaum glücklich sein. Wenn du den Verlust aber annimmst und keinen Widerstand leistest, dann kehrt Gottes Frieden in dir ein. Tränen mögen da sein, aber wenn du den Augenblick zulässt, kannst du hinter der Traurigkeit eine tiefe Gelassenheit spüren, eine stille, heilige Gegenwärtigkeit. Dann wird deine Seele erfüllt von Gottes Frieden.

Wenn es dir zu schwer fällt, das, was geschieht, anzunehmen, dann gibt es einen zweiten Weg. Wenn dich zum Beispiel deine Angst beherrscht, dann betrachte sie ganz genau. Sei dir deiner Angst bewusst. Erkenne sie an. Lehne sie nicht ab, sondern nimm sie an. Erlaube ihr, zu sein. Durch das Annehmen trennst du die Angst von deiner Seele und siehst sie mit Abstand. Du merkst, dass sie lediglich durch dein Denken hervorgerufen wurde. In Dir entsteht eine Weite. Das schlechte Gefühl in dir wird zu einer Quelle der Kraft.

Sollte dir bewusst werden, dass der gegenwärtige Augenblick nicht gut ist, kannst du prüfen, ob es sinnvoll ist, ihm zu entfliehen. Vielleicht öffnen sich dir Möglichkeiten, das Jetzt zu verändern. Sollte dies jedoch nicht möglich sein, nimm das Jetzt an wie es ist. Das Wissen, ob und was du tun sollst, wird von allein zu dir kommen. Lasse jeden Widerstand los. Wenn du dich dem Augenblick hingibst, dann verlieren die schlechten Gedanken ihre Macht über dich. Alle Ängste und Sorgen, aber auch alles Jammern und Klagen haben dann keine Nahrung mehr und verschwinden irgendwann. Durch deine Hingabe an das Jetzt wirst du frei. Dem, was dich vorher beherrscht hat und was dich daran hinderte, Frieden, Freude und Liebe in dir zu haben, dem wird die Macht genommen. Es kann dich nicht mehr beherrschen. Deine Gedanken werden so frei, dass sie nun in der Lage sind, einen Sinn in allem Erleben zu erkennen. Die Machtverhältnisse kehren sich um. Du erhältst die Macht, das Gute zu sehen und zu tun. Auf jeden Fall wirst du frei. Du musst die Lage nicht verändern, wenn du sie angenommen hast. Wenn du gerade nichts tun möchtest, dann tust du nichts. Wenn in dir kein Widerspruch ist, musst du nicht handeln. Du musst nicht in der Zukunft sein, sondern kannst das jetzt genießen oder ertragen.

Wenn unser Bewusstsein in der Zukunft ist, ruft es oft Ängste und Sorgen hervor. Diese Ängste und Sorgen kannst du nicht besiegen, denn sie sind lediglich Gedanken. Sie sind nicht wirklich. Wirklich ist nur das Jetzt. Es gibt nur das Jetzt. Betrachtest du vergangene Augenblicke oder zukünftige, existieren sie nur deshalb, weil du dich an sie erinnerst oder sie dir vorstellst. Dazu musst du das Jetzt nutzen. Dann kannst du dir jedoch nicht mehr des gegenwärtigen Augenblicks bewusst sein. Diese die körperliche und seelische Gesundheit schädigenden Gedanken kannst du nicht besiegen. Aber du kannst ihnen jeden Nährboden entziehen, indem du ganz in der Gegenwart bist und ihn annimmst.

„Was betrübst du dich, meine Seele, und bist so unruhig in mir? Harre auf Gott; denn ich werde ihm noch danken, dass er meines Angesichts Hilfe und mein Gott ist.“ – Psalm 42,12

Gott versieht jeden Augenblick mit einem Sinn. Wenn du das Jetzt bekämpfst, bekämpfst du Gott, ja sogar das Leben selbst. Im Einssein mit dem, was geschieht, liegt der Schlüssel, um einen Bewusstseinszustand zu erreichen, der nicht länger Sklave des Ichs ist, sondern seine Freiheit nutzt, um nahe bei Jesus zu sein, in Gottes Reich. „Wer mir folgen will, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich täglich und folge mir nach.“ – Lk. 9,23

Gustedt, im Mai 2019