Nachruf auf meinen Vater

Nachruf auf meinen Vater Gerhard Garmeister

Dieser Brief ist für alle Menschen, die wegen des Todes meines Vaters traurig sind. Er ist aber auch für alle die Menschen, die Gott etwas näher sein oder einfach lernen möchten, in allem was geschieht, etwas Gutes zu entdecken. Möge jeder etwas Gutes für sich gewinnen.

Heute Morgen ist mein Vater, Gerhard Garmeister, gestorben. Ich habe ihn sehr lieb gehabt. Auch kenne ich niemanden, der ihn nicht mochte. Er war immer hilfsbereit. Alle Verwandten, Nachbarn, Arbeitskollegen und Freunde können das bestätigen. Er konnte alles. Das sage ich nicht nur in kindlicher Begeisterung für meinen Papa. Das war objektiv so. Er reparierte nahezu alles, was kaputt war und zu ihm gebracht wurde. Er konnte jedes Handwerk, dass etwas mit Bauen zu tun hat. Traten irgendwelche Probleme auf, die man durch Handwerk oder sagenhaft praktische Kreationen lösen konnte: Gerd fand diese Lösung.

Natürlich hatte er auch einen Schwachpunkt. Jeder Mensch hat mindestens eine schwächere Eigenschaft. Manchmal war sein Ich ein klein wenig zu groß, um noch angenehm zu sein. Besonders wenn er verletzt wurde. Vor Jahren habe ich aber erkannt, dass die Ursache dafür in schrecklichen Kriegserfahrungen lag. Einmal hatte er mir diese grauenhaften Erlebnisse erzählt, nur ein einziges Mal. Zu groß war der Schrecken, den er sonst in den Tiefen seines Geistes vergrub. Wer um diese Erlebnisse weiß und Liebe in sich hat, kann niemals zornig oder enttäuscht sein. Jeder Mensch ist einzigartig, geprägt von allen Erfahrungen, Kenntnissen, Fähigkeiten und Lebensrollen. Und jeder Mensch wird von Gott geliebt und ist deshalb gleich wertvoll. Mein Vater war ein konsequent guter und liebenswerter Mensch, dem man seine wenigen Fehler gern verzieh.

Heute Morgen rief meine Mutter an und sagte, dass sie sich Sorgen um meinen Vater machte. Er sei außergewöhnlich schwach und müde. Als ich bei meinen Eltern ankam, waren die Sanitäter bereits da. Als ich in Papas Zimmer war, sagte ein Sanitäter, er wäre soeben gestorben. Er fragte Mama, ob er ihn wiederbeleben soll. Meine Mutter verneinte und zeigte ihm in der Patientenverfügung, dass mein Vater seinen Willen bekundet hatte, nicht wiederbelebt zu werden. Ich bestärkte sie in ihrem Entschluss, denn es ging ja um seinen Willen, nicht um unseren.

Es ist wie es ist. Nichts ist gut oder schlecht. Erst unser Denken macht es dazu. In allem Schlechten findet man auch etwas Gutes. Es ist eine Frage der Sichtweise. Und die kann man selbst beeinflussen. Ich bin davon überzeugt, dass Gott alles, was geschieht, mit einem guten Sinn für uns versieht.

Je mehr ich darüber nachdenke, je mehr Sinn sehe ich in dem heutigen Erleben. Es fügt sich alles zusammen. Es hätte für Gott keinen besseren Augenblick geben können als diesen. Ihr werdet verstehen, was ich meine.

Mein Vater war 84. Dieses Schöne Alter haben seine drei Geschwister Irmgard, Herbert und Reini nicht erleben können. Aber seit über zehn Jahren ist mein Vater pflegebedürftig gewesen. Im Laufe der Jahre konnte er zunehmend weniger tun. Selbst seine geschätzte Fingerfertigkeit hatte er verloren. Er konnte sich aufgrund seiner steifen und schmerzenden Füße und anderer Krankheiten und seines Übergewichts kaum richtig bewegen. Gehen ging nur noch überaus langsam. Und meine Mutter hat ihn diese zehn Jahre lang aufopfernd gepflegt. Zum Schluss konnte sie aber nicht mehr. Sie war zunehmend überfordert, war oft ein einziges Nervenbündel. Aber mein Vater wollte mit Gewalt nicht in ein Pflegeheim. Das Haus hatte er eigenhändig gebaut, das konnte er nicht verlassen. Er hatte natürlich recht. In einer fremden Umgebung wäre er nur schwer zurecht gekommen. Dann hätte er sehr schnell abgebaut. Zu diesem Opfer war er noch nicht bereit. Aber meine Mutter war kurz vor dem Zerbrechen. Diese schier ausweglose Lage führte zu Dauerkonflikten zwischen meinen Eltern. Vor sechs Wochen aber sagte mir meine Mutter, dass sie ihre Rolle akzeptiert habe. Sie habe erkannt, dass es ihre Aufgabe wäre, meinen Vater zu pflegen bis zuletzt. Es hatte sich zwischen ihnen etwas verändert. Und das ging von meiner Mutter aus. Ich kann es nur schlecht beschreiben, aber es hat etwas mit liebevoller Hingabe zu tun. Und mit der allumfassenden Liebe Gottes. Seitdem war ihre Beziehung überaus friedlich und sehr harmonisch. Am Nervositätsgrad meiner Mutter erkannte ich stets, ob es bei den Beiden funktioniert oder nicht. Und es funktionierte eindeutig gut. Es gab in den sechs Wochen so gut wie keine Konflikte mehr. Die Pflege meines Vaters war aber nach wie vor eine schwere und anstrengende Aufgabe.

Seit etwa einer Woche war mein Vater sehr müde. Er schlief fast den ganzen Tag. Selbst wenn ihn der Masseur massierte, schlief er ein. Auch aß er wenig. Und er sprach vom Tod. Erst im Nachhinein war das meiner Mutter bewusst geworden. Jetzt weiß sie, dass sich mein Vater angeschickt hatte, diese Welt zu verlassen. Es war die rechte Zeit dafür.

Gott hatte ihn zu sich gerufen. Seit etwa einer Woche. Es liegt auch klar vor mir, warum es ausgerechnet jetzt geschehen ist. 

Zunächst deshalb, weil sein Ego durch die wärmende Liebe meiner Mutter nahezu durchsichtig geworden und deshalb nur noch das Gute in ihm zu sehen war. Seine Seele war bereit, Vieles loszulassen. Die Liebe zu Mama hatte gesiegt.

Der andere Grund war, dass sie in wenigen Tagen den Segen zur goldenen Hochzeit erhalten sollten. Gott hätte ihnen doch nicht erst seinen Segen geben können, nur um dann wenig später meinen Vater zu sich zu rufen. Das hätte doch keinen Sinn ergeben. Es wäre auch nur eine Frage der Zeit gewesen, bis es zuhause beim besten Willen nicht mehr weiter geht. Mein Vater hatte sich entschieden. Er hatte den Wunsch, bis zuletzt zuhause sein zu können.

Ihr Priester hatte sich bereits für kommenden Dienstag zum Besuch angemeldet. Das ist so üblich vor einer Segenshandlung und meine Eltern hatten sich schon darauf gefreut. Der Besuch findet nun trotz allem statt. Nur der Zweck hat sich geändert. Statt goldener Hochzeit wird es der Kondolenzbesuch sein.

Mein Vater ist ohne Schmerzen gestorben. Er war einfach schwach und müde und schlief ein. Im Beisein von Menschen, die ihn lieben. Zuhause und nicht in einer Anstalt. Kann es eine schönere Art geben, von dieser Erde zu gehen?

Meine Mutter wird wohl das Haus verkaufen und endlich in die Stadt ziehen, in eine kleine, feine und seniorengerechte Wohnung, von der aus sie alles zu Fuß erreichen kann. Sie wird sich mit Frauen aus der Gemeinde treffen, und dass ohne an ihren hilflosen Mann zuhause denken zu müssen. Sie wird aufblühen und eine neue, glückliche Lebensphase erleben.

Und mein geliebter Papa wird von oben freudig zusehen und sagen: Liebe Karin, das hast Du Dir verdient. Ich danke Dir für alles, was Du für mich getan hast. Für all die wundervollen Jahre zuhause mit unseren beiden Söhnen. Und besonders auch für die letzten Jahre, in denen Du mich so aufopfernd gepflegt hast. Bis zuletzt. Dankeschön, geliebte Karin.

Wie kann ich da traurig sein? Nein, ich lobe Gott und danke ihm, dass er alles so wunderbar und liebevoll gefügt hat. Und ich freue mich, dass er mir die Gnade schenkt, dies alles erkennen zu können. 

Ihr lieben Alle, ich danke Euch, dass Ihr Euch mit uns Trauernden verbunden fühlt. Trotz der schönen Erkenntnisse, die ich beschrieben habe, hinterlässt mein Vater eine Lücke in unserem Leben. Euer Mitgefühl tut uns gut, so dass sich die Wunde schneller schließen wird.

So lasst uns alle gemeinsam trauern, gemeinsam freudig in eine glückliche Zukunft schauen und alle Augenblicke in schöner Gemeinschaft bewusst und dankbar erleben.

Euer Stefan

Gustedt, am 5. Dezember 2019